Müde

Ich lehne meine Schulter gegen die Wand.
Mein Blick wandert über den Donut.
Die obere Hälfte ist mir Schokoladenglasur überzogen.
Lust ist da.
Ja.
Ein wenig.
Ich erinnere mich daran, wie er schmeckt.
Ich habe so einen schon mal gegessen.
Bevor mir Kalorien (zu) wichtig wurden.
Ich erinnere mich daran und es schmeckt nicht.
Es ist widerlich.
Das bisschen Lust, das ich empfunden habe, ist weg.
Mein Blick gleitet weiterhin über das Essen.
Emotionslos.
Ich lehne meinen Kopf gegen die Wand.
Ich bin müde.
So unglaublich müde.
Wie lange habe ich letzte Nacht geschlafen?
6 Stunden?
5?
4?
Ich weiß es nicht.
Zu wenig.
Die anderen gehen, bewegen sich.
Ich bin so müde, aber ich reiße mich zusammen.
Ich hebe den Kopf, ich will ihn am liebsten wieder gegen die Wand lehnen.
Ich stoße mich von der Wand ab.
Für einen Moment scheine ich das Gleichgewicht zu verlieren.
Aber bevor ich taumle, bevor es jemanden auffällt, fange ich mich.
Die ersten Schritte fallen mir schwer, wie Blei fühlen sich meine Beine an.
Wohin mit meinen Händen?
Ich schiele zu anderen, um es ihnen gleichzutun.
Aber sie alle haben essen in den Händen.
Ich bin kurz davor, wieder loszuheulen.
So wie gestern.
So wie die letzten Tage.
Immer wieder war ich vor der Kontrolllosigkeit.
Ich reiße mich zusammen.
Laufe die Treppe runter.
Mit den anderen.
Was, wenn sie wieder dumme Bemerkungen machen?
"Maike ist anrexic. Hat sie grad zu gegeben" - "Du isst nie was" - "Du musst mal was essen" - All das fällt mir ein.
Ich bekomme Angst.
Mein Herz rast.
Für eine Sekunde wird meine Angst größer, dann fällt mir ein, dass diesmal das Herzrasen...begründet ist.
Ich beruhige mich wieder.
Wir laufen von der Mensa ins Schulhaus.
Ich und eine andere bleiben vor einem Bild der Lehrer stehen.
Sie macht mich auf eine Lehrkraft mit dem Nachnamen "Speck" aufmerksam.
Wir lachen.
Ich habe schon lange nicht mehr so gelacht.
So befreit.
Aber trotzdem wird mir übel bei dem Namen.
Wir gehen ins Klassenzimmer.
Heute ist "Tag zur Stärkung des Klassenklimas".
Wir müssen "Wunschbriefe" an ein bis drei Personen schreiben.
Als wir fertig sind, müssen wir die Briefe dem Empfänger vorlesen, so wie die vor der Pause geschriebenen Lobbriefe.
Vor der ganzen Klasse.
Plötzlich steht S. vor mir.
Ich bekomme Angst.
"Ich wünsch mir von dir, dass du mehr isst" und ähnliche Dinge stelle ich mir vor.
Sie liest ihn vor.
Ich bin beruhigt.
Sie hat Ana nicht erwähnt.
Ich bin müde.
Immer noch.
Ich will schlafen.
Meine Ruhe haben.
Die Schule ist vorbei.
Ich fahre mit dem Fahrrad heim.
Zwischendrin habe ich keine Kraft.
Aber dann im nächsten Moment bin ich voller Energie.
Ich bin verwirrt.
Aber das ist okay.
Ich komme heim.
Ich dusche.
Dann esse ich.
Ich hasse mich und will weinen.
Aber das geht nicht.
Meine Oma kommt, bringt noch mehr essen mit.
Am liebsten würde ich die Bratkartoffeln von vorher auskotzen.
Aber ich ziehe mich in mein Zimmer zurück.
Eine Stunde später gehe ich mit dem Hund meiner Tante raus.
Ich taumle immer wieder, mir ist ein wenig schwindlig.
Ich bin müde, erschöpft.
Alles, was ich will, ist, nach Hause zu gehen und zu schlafen.
Aber ich sitze hier und schreibe diesen Eintrag.
Zwischendrin sehe ich auf mein Handy, erkläre ein paar Klassenkameraden die Hausaufgaben machen.
Mein Blick fällt auf die Wunsch- und Lobbriefe.
Vermutlich sollte mich das aufmuntern, aber...
Nein.
Es geht nicht.
Ich bin so müde.
Vielleicht lasse ich mich morgen krank schreiben, sollte ich heute Nacht wieder so wenig schlafen.
Dann kann ich vielleicht sogar wirklich fasten.
Ich bin müde.
So unendlich müde.
Ich kann nicht mehr.
Vielleicht erzähle ich L, der Lobbriefschreiberin, von Ana.
Ich glaube, sie versteht das.
Irgendwie zumindest.
Keine Ahnung.
Aber sie gehört zu denen aus der Klasse, die ich am meisten mag.
Eine von ihnen sollte davon erfahren.
Ich dreh durch, dieses "Ja Nein Ja Nein"-Denken.
Ich bin müde.

Die Briefe:

< Lobbrief von L

Wunschbrief von S >